Illustration: edeos

Ein Sport für Kommunisten

Im Alter von etwa zehn Jahren passiert etwas mit den Kindern in den USA. Nahezu 88 Prozent geben den Fußball auf. Dieselben Kinder gehen dann zu Baseball, American Football, Basketball, Hockey, Feldhockey und Golf über. Kurz darauf hören sie auch damit auf. Warum? Ein Schriftsteller erzählt die wahre Geschichte des amerikanischen Fußballs.

Wenn Kinder in den Vereinigten Staaten sehr klein sind, glauben sie, Fußball sei der beliebteste Sport der Welt. Sie glauben dies, weil jedes einzelne Kind in Amerika Fußball spielt. Es ist eine Regel, dass sie spielen, eine Regel, dargelegt in demselben uralten Dokument, ausgehängt in der Hauptstadt jedes Staats, das auch darauf besteht, dass Sechsjährige Treue auf die Fahne schwören — eine Praxis, die übrigens furchtbar anzuschauen ist, mein Gott – und dass sie sich einmal im Jahr als winzige Pilger verkleiden mit aus Baumwolle gefertigten Bärten. An Samstagen ist jeder flache grüne Raum in den kontinentalen Vereinigten Staaten übersät mit winzigen Menschen in glänzender Sportkleidung, die den Patchwork-Ball das Spielfeld hoch- und runterjagen, zur Freude und Verwirrung ihrer Eltern, von denen die meisten keine Ahnung haben, was da vor sich geht. 

Die Schönheit des Fußballs besteht für sehr junge Leute darin, dass es sehr wenig Talent braucht, um ein Simulakrum des Spiels zu schaffen.

Die wichtigste Antriebskraft hinter all dem ist die American Youth Soccer Organization oder AYSO. In den 1970er Jahren wurde AYSO gegründet, um Fußball in der amerikanischen Jugend populär zu machen, und sie tat dies mit verblüffender Effektivität. Innerhalb weniger Jahre war Fußball der Sport der Wahl für Eltern überall, insbesondere für jene, die den Verdacht hegten, ihre Kinder hätten keinerlei sportliche Fähigkeiten. Die Schönheit des Fußballs besteht für sehr junge Leute darin, dass es sehr wenig Talent braucht, um ein Simulakrum des Spiels zu schaffen. Kein anderer Sport hält so viel Inkompetenz aus. Im Fußball können 22 Kids herumrennen, die meisten von ihnen ziellos, oder sie können Unkraut an den Rändern pflücken oder ohne ersichtlichen Grund weinen und trotzdem kann das Spiel im Allgemeinen wie ein echtes Fußballspiel wirken. Wenn es drei oder vier koordinierte Kids unter den 22 zappelnden Körpern gibt, dann kommt es tatsächlich auch zum Dribbling, ein paar gültigen Einwürfen und einige Male dehnt der Ball die Maschen. Das ist dann Fußball, mehr oder weniger. Weil sie alle spielen, nehmen die meisten Kinder Amerikas an, Fußball werde immer ein Teil ihres Lebens sein.

 

Im Vordergrund ist ein Handy zu sehen, durch dessen Kamera das laufende Fußballspiel gefilmt wird.
Im Alter von etwa zehn Jahren passiert etwas mit den Kindern der Vereinigten Staaten. Nahezu 88 Prozent der jungen Leute geben den Fußball auf, schnell und ohne Umschweife, Foto: Thomas Serer, unsplash.

Als ich selbst acht Jahre alt war und Mittelfeldspieler für die ungeschlagenen Strikers (trainiert vom unvergleichlichen Mr. Cooper), hegte ich keine anderen Erwartungen ans Leben, als weiter Mittelfeldspieler zu sein, bis ich sterbe. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass sich da jemals etwas ändern könnte. Aber im Alter von etwa zehn Jahren passiert etwas mit den Kindern der Vereinigten Staaten. Nahezu 88 Prozent der jungen Leute geben den Fußball auf, schnell und ohne Umschweife. Dieselben Kinder, die mit fünf, sechs, sieben Jahren gespielt haben, gehen dann zu Baseball, American Football, Basketball, Hockey, Feldhockey und, betrüblicherweise, Golf. Kurz darauf hören sie auch auf, diese Sportarten zu betreiben, und beginnen, sich diese im Fernsehen anzusehen, einschließlich, betrüblicherweise, Golf. Das Aufgeben des Fußballs ist zum Teil der Tatsache geschuldet, dass einflussreiche Menschen in Amerika lange Zeit glaubten, Fußball sei der auserkorene Sport der Kommunisten. Als ich 13 war – es war das Jahr 1983, lange vor Glasnost, ganz zu schweigen vom Fall der Mauer – hatte ich einen Sportlehrer, den wir hier einmal Moron McCheeby nennen wollen, der eine sehr zwingende Verbindung herstellte zwischen Fußball und den Architekten des Eisernen Vorhangs.

Russen, Polen, Deutsche und andere Rote

Ich erinnere mich, dass ich ihn einmal fragte, warum es in seinen Sporteinheiten keine Fußballtage gab. Sein Gesicht verdunkelte sich. Er nahm mich beiseite. Er erklärte zitternd, kaum in der Lage, seine Wut zu beherrschen, er bevorzuge anständige, ehrliche amerikanische Sportarten, in denen man seine Hände benutzt. Sportarten, in denen man die eigenen Hände nicht nutzt, sagte er, seien rote Sportarten, die von Russen, Polen, Deutschen und anderen Roten gespielt würden. Die Hände im Sport zu nutzen, sei amerikanisch, die Füße zu nutzen, Sache der Anhänger von Marx und Lenin. Ich glaube, McCheeby holte dann aus zu einem umfassenden Vortrag über dieses Thema.

Es geschah, laut der meisten Schilderungen, im Jahr 1986, als sich die Bewohner der Vereinigten Staaten über ein Ding namens Weltmeisterschaft bewusst wurden. Vereinzelte Berichte kamen von ausländischen Korrespondenten, und diese Berichte machten uns Angst, wir machten uns Sorgen über Domino-Effekte und fragten uns laut, ob dieser Trend wohl zu stoppen sei, indem man eine bestimmte Zahl militärischer Berater in Köln und Marseilles platziert. Und dann, 1990, stellten wir fest, dass die Weltmeisterschaft womöglich alle vier Jahre stattfinden würde, mit oder ohne uns. Zur gleichen Zeit boomte der Highschool-Fußball in den Außenbezirken von Chicago, was vor allem mit dem Zuzug ausländischer Austauschstudenten zu tun hatte.

Illustration: Rote Flagge auf beigem Hintergrund.
Das Aufgeben des Fußballs ist zum Teil der Tatsache geschuldet, dass einflussreiche Menschen in Amerika lange Zeit glaubten, Fußball sei der auserkorene Sport der Kommunisten, Illustration: Markus Spiske, unsplash.

Meine eigene Highschool-Mannschaft war für damalige Verhältnisse unglaublich gut, bestückt mit außergewöhnlichen Spielern von anderen Orten. Ich kann mich immer noch an den Namen des Stürmers erinnern, der, glaube ich, aus Rom kam: Alessandro Dazza. Er war der beste in der Mannschaft, kurz vor Carlos Gutierrez (nicht sein wahrer Name), der aus Spanien stammte und im Mittelfeld spielte. Unser bester Verteidiger war ein vietnamesisch-amerikanischer Student namens Tuan, und dann gab es auch noch Paul Beaupre, der eigentlich aus unserer Stadt voller WASPs (White Anglo-Saxon Protestants) kam, dessen Name aber Französisch klang. Wir hätten eigentlich gewinnen sollen, aber wir sind dem nicht sehr nahegekommen. Homewood-Flossmoor, so hörten wir, hatte Zwillinge aus Brasilien.

 

Der WM-Pokal wird vor blauem Himmel in die Höhe gehalten.
Kurze Zeit nach dem Aufkommen des professionellen Hallenfußballs bewiesen die USA, dass es ihnen mit dem Fußball ernst war: 1994 kam die Weltmeisterschaft nach Amerika, Foto: Fauzan Saari, unsplash.

Kurze Zeit später, nach dem Aufkommen des professionellen Hallenfußballs und einiger unbeholfener Versuche im Freien, bewiesen wir der Welt, dass es den Vereinigten Staaten mit dem Fußball ernst, oder relativ ernst, war und 1994 kam die Weltmeisterschaft nach Amerika. Mindestens vier bis fünf Prozent des Lands hatten davon gehört und eine entsprechende Prozentzahl von ihnen ging zu den Spielen. Das genügte, um die Stadien zu füllen und das Experiment wurde als Erfolg betrachtet. Im Zuge der Meisterschaft in Amerika haben andere Outdoor-Ligen darum gekämpft, sich zu etablieren, und die aktuelle Liga scheint mehr oder weniger brauchbar, obwohl Zeitungsberichte über die Spiele für gewöhnlich in den unteren Bereichen des Sportteils zu finden sind, neben den Anzeigen für Autos und den Zusammenfassungen zum Biathlon.

Unsere anhaltende Gleichgültigkeit gegenüber einem Sport, der in der ganzen Welt verehrt wird, kann leicht in zwei Teilen erklärt werden. Erstens bevorzugen wir als eine Nation verrückter, aber entschlossener Erfinder, Dinge, die wir uns selbst ausgedacht haben. Die beliebtesten Sportarten in Amerika sind jene, die wir selbst erfunden und entwickelt haben: American Football, Baseball, Basketball. Wenn wir uns zumindest einen Teil von etwas als unseren Verdienst anrechnen können, wie bei Tennis oder Radio, sind wir bereit, passiv interessiert zu sein. Aber den Fußball haben wir nicht erfunden und deshalb ist er uns verdächtig.

Das zweite und bei Weitem größte Hindernis für die Popularität der Weltmeisterschaft und des Profifußballs im Allgemeinen ist das Vortäuschen von Fouls. Amerikaner mögen allgemein arrogant sein, aber es gibt eine Haltung, hinter der ich stehe, und das ist die tiefe Verachtung für Elfmeter-Fälscher. Es gibt einige Beispiele für amerikanische Sportarten, in denen das Vortäuschen von Fouls zum Spiel gehört, aber viel weniger akzeptiert ist. Die Dinge sind im American Football zu kompliziert und gefährlich, um viel vortäuschen zu können. Baseball? Es ist nicht möglich, wirklich nicht – du kannst nicht vortäuschen, von einem Baseball getroffen zu werden, und es ist unmöglich, vorzutäuschen, du habest einen gefangen. Die einzige der großen drei Sportarten mit einem Schwalbe-Faktor ist Basketball, wo Spieler ein Foul gegen sie übertreiben können, was sie auch gelegentlich tun, aber Achtung: Der größte Foul-Vortäuscher in der NBA (National Basketball Association) ist überhaupt kein Amerikaner. Es ist ein Argentinier! (Manu Ginobili, der beste Vortäuscher überhaupt, aber ansonsten ein sehr guter Spieler.)

 

Aber die Vortäuschung eines Fouls im Fußball ist ein Problem. Eine Schwalbe ist im Wesentlichen eine Kombination aus Schauspielerei, Lügen, Betteln und Betrügen und diese vier Verhaltensweisen ergeben eine unsympathische Mischung. Die schiere Theatralik der Schwalbe ist widerlich, wie auch die zeitlupenartige Manier, in der sich das Täuschungsmanöver entfaltet. Zuerst gibt es einen beiläufigen Kontakt und dann einen langen Moment – lang genug, um zu gehen, das Auto zu waschen und zurückzukehren – nach dem Kontakt und bevor der Foul-Vortäuscher sich entscheidet, ein Foul vorzutäuschen. Wenn man nach dem Waschen des Autos zurückkommt und ungefähr zu der Zeit, wenn du dir ein Mini-Bagel mit gegrilltem Käse zubereitest, springt der Foul-Vortäuscher nach vorne, sein Mund aufgerissen und oval, und bereitet sich vor auf den Kontakt mit dem Boden unter ihm.

Fußball, ein weltweit verehrter Sport, findet in der breiten US-Öffentlichkeit nur widerwillig Anerkennung, Foto: Vienna Reyes, unsplash.

Aber dies ist erst der Anfang. Geh los und kaufe Lebensmittel ein und eröffne vielleicht ein neues Tagesgeld-Konto auf der Bank, und wenn du zurückkehrst, wird unser Foul-Vortäuscher immer noch auf dem Boden sein, sich sein Schienbein halten, während er seinen Kopf in vorgetäuschter Pein zurückwirft. Es ist ekelhalft, das Ganze, insbesondere, weil diese Vortäuschung sehr viel Zeit und Melodramatik braucht, der nächste Schritt aber so schnell erfolgt, dass man Spezialkameras benötigt, um ihn einzufangen. Sobald die Schiedsrichter entschieden haben, ob es einen Elfmeter gibt oder nicht, wird unser Fakey McChumpland aufspringen, plötzlich und spektakulär unverletzt – excelsior! – und wird den Ball zu seinem Mitspieler schießen und weiterlaufen.

Amerikanische Sportarten basieren, wohl oder übel, auf Transparenz oder den Anschein von Transparenz und auf der Erkämpf-es-dir-Arbeitsethik. Deshalb ist der beliebteste Fußballspieler in der amerikanischen Geschichte Sylvester Stallone. Tatsächlich hatte Sylvester Stallone mit den beiden größten Momenten im amerikanischen Fußball zu tun. Der erste kam mit „Victory“ (deutscher Titel: Flucht oder Sieg), dem Filmklassiker über alliierte Fußball spielende Kriegsgefangene und das All-Star Game, das sie gegen die Nazis spielen. In diesem Film spielt Stallone einen amerikanischen Soldaten, der aus irgendeinem Grund – man kann von niemandem erwarten, dass er sich an solche Dinge erinnert – den Torwart in der Mannschaft der Kriegsgefangenen ersetzen muss.

Natürlich weiß Stallone nichts über Fußball und so muss er also lernen, den Torwart zu spielen (irgendwo grinst Moron McCheeby triumphierend). Stallone macht es auf bewundernswerte Weise, die Alliierten gewinnen (glaube ich), und als die Menge sie bestürmt, verstecken sie sich unter Mänteln und Fans und schleichen sich weg in die Freiheit. Der zweite bedeutendste Moment ereignete sich, als die Weltmeisterschaft in den Vereinigten Staaten stattfand, 1994. Es wird berichtet, dass Stallone eines der Spiele besuchte und es zu genießen schien. Es ist unvermeidlich, wenn man bedenkt, wie sich die US-Mannschaften jedes Jahr verbessern, dass wir es letztendlich ins Halbfinale der Weltmeisterschaft schaffen und es ist wahrscheinlich, so sollte man glauben, dass die Vereinigten Staaten in der nahen Zukunft das Ganze gewinnen. Dies ist immerhin ein Land von grenzenlosem Wohlstand und mit 200 Millionen Menschen, und wenn wir die richtigen Ressourcen für ein Projekt aufwenden, dann kriegen wir es hin (siehe Vietnam, Libanon, Irak). Aber bis wir die Meisterschaft gewinnen, gibt es für Fußball von der breiten Öffentlichkeit nur widerwillige Anerkennung.

Über den Autor
Dave Eggers
Schrifsteller, Drehbuchautor und Herausgeber

Dave Eggers ist ein US-amerikanischer Schriftstelller, Drehbuchautor und Herausgeber verschiedener Literaturzeitschriften. Er ist Mitgründer von 826 National, einem Netzwerk von Lernstudios in den USA und ScholarMatch, einer gemeinnützigen Organisation, die Schüler mit Ressourcen, Schulen und Geldgebern zusammenbringt, damit sie aufs College gehen können.

Bücher (Auswahl):

  • Every. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2021
  • Die Parade. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2020
  • Der größte Kapitän aller Zeiten. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2020
  • Bis an die Grenze. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2017
  • Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig? Kiepenheuer und Witsch, Köln 2015
  • Der Circle. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2014

Kulturreport Fortschritt Europa

Der Kultur kommt im europäischen Einigungsprozess eine strategische Rolle zu. Wie steht es um die Kulturbeziehungen innerhalb Europas? Wie kann Kulturpolitik zu einer europäischen Identität beitragen? Im Kulturreport Fortschritt Europa suchen internationale Autor:innen Antworten auf diese Fragen. Seit 2021 erscheint der Kulturreport ausschließlich online.